(Spoiler: Es gibt sehr viele 😀 )
aus dem englischen Original von Amy Goh
https://bendydiaries.wordpress.com/
Ich dachte, ich liste einmal ein paar schmerzhafte Missverständnisse auf, die ich sehr oft zu hören bekomme wenn ich Leuten erzähle, dass ich Contortion trainiere. Oder auch, wenn sie meine Trainingsvideos sehen.
Ich verstehe, dass Leute fasziniert und verwirrt sind über all die Dinge, die ich mit meinem Körper mache – aber ich dachte schon, dass ein paar der Aussagen mit Hausverstand einher gehen 😀
Man fragt ja auch keinen Fußballer, ob sie ihre Knöchel jeden Tag beim Training verletzen. Aber nachdem man bei Contortion seine Vorstellungen über das körperlich Mögliche herausfordert, listen wir mal ein paar Vorurteile auf:
1. Contortion und Überbeweglichkeit ist schlecht für deinen Rücken
a.k.a „Oh mein Gott! Deine Füße sind vor deinem Kopf!
Deine Wirbelsäule muss so weh tun!“
Ehrlich gesagt, wenn du es richtig machst, sollte deine Wirbelsäule genau gar nicht schmerzen wenn du dich verbiegst. Deine Oberschenkel, Bauchmuskeln und Schultern sollten angespannt sein wenn du in einem tiefen Backbend bist, um den Druck auf deine Wirbelsäule zu verringern.
Außerdem gibt es eine große Muskelgruppe, die die Wirbelsäule umschließt und es ermöglicht, sich zu beugen ohne Belastung. (ref 1: erector spinae)
Wenn die Wirbelsäule gut unterstützt wird weil du all die anderen Muskeln gut anspannst, ist es möglich, tiefer in eine Pose hineinzugehen. Du wirst auch den Punkt spüren, wo du merkst, dass du dich selbst in extremeren Posen entspannen und tief atmen kannst. Nach einem guten Warm-Up fühlen sich Cheststands sehr angenehm für meine Wirbel an!
(Als Faustregel gilt: Backbending und Frontbending müssen ausgeglichen sein, um die Wirbelsäule wieder zu „resetten“. Je härter die Backbending Einheit war, umso intensiver wird die Frontbeuge. Das hilft der Wirbelsäule, wieder zurück zur neutralen Position zu kommen und vermeidet Rückenschmerzen.)
MRI Scans haben gezeigt, dass professionelle Contortionisten eine geradere Wirbelsäule haben und mehr Abstand zwischen den Wirbeln als normal. Die Extremität des Rückens wird tatsächlich dadurch bestimmt, wie viel Platz zwischen den Wirbeln der Wirbelsäule vorhanden ist. Wenn du nicht regelmässig stretcht und die meiste Zeit sitzt, verringert sich der Platz zwischen den Wirbeln, es kommt zu den klassischen Lendenwirbelschmerzen und anderen Problemen (wie zum Beispiel wenn dein Backbend ohne die restliche Wirbelsäule ausgeführt wird, wird nur der untere Rücken gequetscht und das ist auch nicht gut für dich).
Daraus schlußfolgert, dass Contortion gut für dich ist, weil du deine Wirbelsäule verlängerst, streckst und begradigst! Das wiederum erhöht deine Beweglichkeit und reduziert das Risiko von Rückenverletzungen und Bandscheibenvorfällen.
Das Ausmaß der möglichen Rückbeuge wird dadurch bestimmt, wie viel Strukturen an der Vorderseite der Wirbelsäule sich dehnen können und wie viel Platz zwischen den Strukturen an der Rückseite der Wirbelsäule vorhanden ist.
2. Contortionists haben eine kürzere Lebenserwartung
a.k.a. „Das ganze Verbiegen kann nicht gut für dich sein!“
Gut, „die Lebenserwartung von Menschen ist unterschiedlich“
(ist wirklich meine Lieblingsantwort!)
Und wo sind medizinischen Beweise? Wenn du glaubst, dass Schlangenmenschen hart trainieren und oft einem zermürbenden Trainingsplan unterliegen, der vielleicht ihre Bühnenlebensdauer verkürzt, dann ja.
Wie auch immer, das alles hängt von der Intensität des Trainings ab. Gleich wie mit allen anderen Aktivitäten ist ein nachhaltiges Training, bei dem man an seine Zukunft denkt wichtig. Nur dann kann man auch länger auftreten, Shows abhalten und bleibt beweglich. Es gibt viele Contortionisten, die in ihren 50ern, 60ern und sogar mit 70 Jahren noch ihre Überbeweglichkeit trainieren.
Es ist wahr, dass mongolische Schlangenmenschen schon sehr jung mit dem Training starten und oft schon mit 20 Jahren nicht mehr trainieren können, weil sie Jahrelang ohne Pausen trainiert haben. Manche leiden auch an Verletzungen aufgrund des intensiven Trainings und verkürzen damit ihre Karriere (der Albtraum eines jeden Athleten). Auch wenn du viele Stunden am Tag trainierst und über Wochen ohne Pausen öfter Abends Auftritte hast, sind überbeanspruchte Verletzungen die Folge. Das gleiche Prinzip kann man natürlich in jedem professionellen Sport anwenden:
Fußball, Ballett, Schwimmen etc.
Zu sagen, Contortion sei riskanter als jede andere anspruchsvolle Sportart, ist eine falsche Behauptung.
(Dazu gibt es auch interessante Studien, wo die Verletzungsrate von Cirque du Soleil Artisten mit High Impact Sports verglichen werden: http://www.lpbk.net/misc/injury_patterns_and_injury_rates_in_the_circus_arts.pdf)
3. Contortion tut weh
a.k.a. „Mein Rücken tut schon beim hinschauen weh“
Es gibt unterschiedliche Arten von Schmerz. Stechender Schmerz, akuter Schmerz, dumpfe Schmerzen und Stretchingschmerzen.
Wenn du einen Muskel über seine gewohnte Länge streckst, wird es zwangsläufig Schmerzen geben, da dieser Muskel, der den Selbstschutzmechanismus des Körpers darstellt, sich unwillkürlich zusammenzieht.
(Schau dir dieses Video dazu an:
https://www.youtube.com/watch?v=1JgBp7dX4AU )
Wie auch immer, die Schmerzen die sich diese Leute vorstellen, ist nicht diese Art von Schmerz. Wenn deine Muskeln die richtige Elastizität und Länge haben, sind Stretches die schmerzhaft aussehen eigentlich sehr angenehm und gemütlich. Es tut nur weh, wenn du über deine normale Range of Motion hinaus stretcht, und Contortionists haben eine sehr erweiterte ROM. (Dazu kannst du dir diese Studie ansehen: https://www.researchgate.net/publication/51395368_Whole-spine_dynamic_magnetic_resonance_study_of_contortionists_Anatomy_and_pathology)
4. Nur Hypermobile Personen können Schlangenmenschen werden
a.k.a „Schlangenmenschen werden so geboren“
Hypermobilität hat ein Spektrum:
Geringere bis mittlere Werte von Hypermobilität geben einem knapp den Vorteil, der nötig ist, um ein erfolgreicher Zirkusartist zu werden. Ist man zu hypermobil, kann es zu Erkrankungen wie dem Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) und anderen Hypermobilitätssyndromen der Gelenke kommen, die durch die Überlaxität des Muskelgewebes verursacht werden. Die meisten hypermobilen Athleten fallen irgendwo dazwischen. Allerdings sind nicht alle Kontorsionisten hypermobil und nicht alle hypermobilen Athleten sind dazu bestimmt, im Alter von 40 Jahren immobil zu sein. Das richtige Training ist komplett entscheidend.
Fakt: Contortionists haben immense Mengen an Kraft um den richtigen Mittelweg in ihrer Beweglichkeit zu finden. Während Hypermobilität zu einem zu laschen und schwachen Gewebe führt, trainieren Schlangenmenschen hart, so dass ihr Kollagen tatsächlich stärker ist als das eines normalen Menschen. Stell dir nur ein paar Contortionmoves vor: Backbends, Handstände, Cheststands! Eine hypermobile Person mit leicht auskegelbaren und beweglichen Gelenken hätte nicht die richtige Vorraussetzung und Kraft um in solche Tricks hinein zu kommen, auch wenn ihr zB ein normaler Spagat leicht fällt.
Wir lernen immer mehr und mehr über die Wichtigkeit von aktiver Flexibilität. Was hilft dir ein Spagat, wenn du ihn nicht in der Luft ohne der Hilfe von Gravitation schaffst?
Contortion Training erfordert mehr Kraft als Beweglichkeit. So gesehen kannst du sagen, dass Contortionists die stärksten Rücken haben.
5. Überbeweglichkeit ist sexuell anziehend (viele Männer sagen das)
a.k.a „Dein Freund/Mann kann sich glücklich schätzen!“
Eigentlich haben Sex und Contortion keinerlei Verbindung, es sei denn, du stellst dir eine vor.
Es gibt zwei traditionelle Arten von Contortion: Monglian und Russian.
Der mongolische Stil ist der bei uns bei Shows gängigere, während der russische Stil dafür bekannt ist, dass er intensiveres und härteres Training für die Schüler fordert.
Die mongolische Kultur hat eine lange Tradition und eine Geschichte der Contortion, die bis zu einer buddhistischen Tradition zurückreicht. Ähnlich wie beim Yoga hat die Verrenkung buddhistische Wurzeln, da die Mönche glaubten, dass die Flexibilität des Körpers mit der Flexibilität des Geistes verbunden ist, so dass das Verbiegen eine Möglichkeit des Geistestrainings ist. Auch im mongolischen Tanz gibt es einige Contortionmoves, aber es geht nicht mehr um die spirituelle Praxis, eher um die spekakulären Shows.
Es gibt Contortion auch als Fetisch, aber das ist wirklich ein anderes, nicht zusammenhängendes Thema. Es ist irgendwie ärgerlich (wenn auch unvermeidlich), dass dies das Erste ist, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn von Überbeweglichkeit die Rede ist.
6. Contortionists haben keine Wirbelsäule.
Uhhhh, das lassen wir hier einfach mal so stehen… 😉
Bilder von Amy Goh – © Amy Goh,
https://bendydiaries.wordpress.com/category/contortion/